5.Kriterien zur Einschätzung von und zum Umgang mit Partnerschaftsgewalt als potenzielle Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB

5.1Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB

Aus den oben unter 3 und 4 dargestellten Befunden kann zusammengefasst werden: Nahezu alle Kinder erleben Partnerschaftsgewalt als belastend und ängstigend. Etwa 30 bis 40 % betroffener Kinder reagieren mit klinisch relevanten psychischen Problemen oder Auffälligkeiten. Ungefähr 20 bis 25 % der Kinder entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Bei Kindern, die in Frauenhäusern untersucht wurden, wurden teilweise höhere Raten gefunden. Bei Mädchen wie Jungen überwiegen die nach innen gerichteten Auffälligkeiten (z. B. Ängste), die leichter übersehen werden. Auch Säuglinge und Kleinkinder reagieren mehrheitlich mit erhöhter Unruhe, Irritierbarkeit und Trennungsängsten. Neben psychischer Belastung zeigen viele betroffene Kinder Einschränkungen in der sozialen Entwicklung, etwa hinsichtlich einer konstruktiven Konfliktlösung mit Gleichaltrigen. Im Hinblick auf Eltern-Kind-Bindungsbeziehungen hat Partnerschaftsgewalt das Potenzial, die Beziehungen zu beiden Elternteilen zu belasten. Nach einem Aufwachsen mit häuslicher Gewalt steigt die Wahrscheinlichkeit von Gewalt in ersten intimen Beziehungen und Partnerschaften. Zudem kann Partnerschaftsgewalt Kinder daran hindern, ihr intellektuelles Potenzial auszuschöpfen, was Lebenschancen mindert. Partnerschaftsgewalt ist zudem nicht nur ein schwerer Belastungsfaktor im Leben von Kindern, sondern auch ein Warnhinweis im Hinblick auf andere Formen von Gefährdung (z. B. körperliche Kindesmisshandlung).

Da sich aus miterlebter Partnerschaftsgewalt deutlich negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ergeben, kann von einer Gefahr für Kinder und Jugendliche nach der Definition von Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1, § 1671 Abs. 4, § 1684 Abs. 4 S. 2 BGB gesprochen werden. Beispiele aus der Rechtsprechung etwa OLG Koblenz 13.1.2020 – 9 UF 526/19;OLG Brandenburg 7.2.2019 – 13 UF 8/19; OLG Köln 22.3.2011 – 4 UF 29/11, II-4 UF 29/11; AG Bremen 17.4.2008 – 61 F 2039/07. Durch das tatsächliche Miterleben von Partnerschaftsgewalt oder eine Einbeziehung des Kindes bzw. der*des Jugendlichen in die Gewaltsituation ist, wenn das Geschehen nicht schon lange zurückliegt und mit einer Wiederholung vorerst nicht zu rechnen ist, die Gefahr auch „gegenwärtig“. Das weitere einschränkende Kriterium, die Erheblichkeit der zu erwartenden Schädigung – oder die „bedeutsamen Beeinträchtigungen in wichtigen Entwicklungsbereichen“ – geht mit dem Miterleben von Partnerschaftsgewalt allerdings nicht zwangsläufig einher. Hier spielen sowohl Art und Ausmaß der Gewalt Vu et al., Clinical psychology review 2016. als auch die Qualität des elterlichen Fürsorgeverhaltens jenseits der Gewalt eine Rolle. Dies gilt auch für die Qualität von Fürsorge durch den gewaltausübenden Elternteil, wenn dieser weiter Kontakt zum Kind hat. Jeong et al., Pediatrics 2020. Allerdings bedarf es hier häufig vorausgehend Beratung und Hilfe, um Gewaltfreiheit wie positive Fürsorge sicherzustellen. Ohne deutliche Anzeichen positiver Veränderung sind die Erwartungen bei einem Teil der betroffenen Kinder sehr gering Cater & Forsell, Child & Family Social Work 2014. und die Ängste entsprechend groß. Schlimmer noch, positive väterliche Fürsorge kann die Belastungsreaktionen verstärken, wenn es in für das Kind verstörender Weise zu erneuter Partnerschaftsgewalt durch den Vater kommt. Maliken & Fainsilber Katz, 2012; Skopp, Journal of Family Psychology 2007. Einen günstigen Einfluss auf die kindliche Entwicklung hat insbesondere auch das mütterliche Fürsorge- und Erziehungsverhalten und eine positive Mutter-Kind-Beziehung, wenn dies trotz der Gewalt aufrecht erhalten werden kann oder nach einem Ende der Gewalt eine Erholung einsetzt, wo- durch vielfach die Belastungen von Kindern abgefedert werden können. Zu einem Überblick über entsprechende Studien siehe etwa Kindler 2013, S. 44.

Glücklicherweise nehmen somit nicht alle Kinder und Jugendlichen, die in ihrem Aufwachsen Partnerschaftsgewalt ausgesetzt waren, eine erhebliche Schädigung auf ihren weiteren Lebensweg mit. Dies bedeutet für die Praxis, dass nicht pauschal- generalisierend proklamiert werden kann, das Miterleben von Partnerschaftsgewalt sei in jedem Fall Kindeswohlgefährdung, um ggf. Eingriffe – auch in die Rechte der Mutter – zu rechtfertigen. Vielmehr ist das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Kindeswohlgefährdung in jedem Einzelfall zu prüfen. Das erhöht die Anforderungen an die Wahrnehmung des Schutz- und Hilfeauftrags der handelnden Fachkräfte, erweitert aber das Repertoire für Hilfe und Unterstützung bei der Wiederherstellung sicherer und förderlicher Aufwachsensbedingungen für das Kind bzw. die*den Jugendliche*n.