Auch hinsichtlich des zweiten genannten Aspekts der sozialen Entwicklung, der Gleichaltrigenbeziehungen, haben sich negative Einflüsse miterlebter Partnerschaftsgewalt aufzeigen lassen. Manchmal sind sozialer Rückzug oder schnell eskalierende Konflikte unmittelbarer Ausdruck der psychischen Belastung vieler betroffener Kinder. Jedoch haben mehrere Studien gezeigt, dass es auch tieferliegende Veränderungen gibt. Unter den Bedingungen eines Aufwachsens mit Partnerschaftsgewalt entwickeln viele Kinder mehr Misstrauen und Feindseligkeit. McCloskey & Stuewig, 2001. Zudem haben sie weniger Ideen, wie Konflikte ohne Zwang und Gewalt gelöst werden können. Ballif-Spanvill et al., American Journal of Orthopsychiatry 2003. Beides erschwert positive Beziehungen zu Gleichaltrigen und tiefe Freundschaften. Im Miteinander der Geschlechter geht häusliche Gewalt häufig mit eher geschlechterhierarchischen Vorstellungen einher. Z.B. Graham-Bermann & Brescoll, Journal of Family Psychology 2000. Wenn sich dann im Jugendalter aus der Welt der Gleichaltrigenbeziehungen erste romantische und sexuelle Beziehungen herausentwickeln, erhöht eine Geschichte des Miterlebens von Partnerschaftsgewalt die Wahrscheinlichkeit von Gewaltmustern (Dating Violence). Mehrere Langzeituntersuchungen haben dies bestätigt, Cascardi & Jouriles, 2018. wobei selbst in der frühen Kindheit miterlebte Partnerschaftsgewalt eine Rolle spielen kann. Narayan et al., Journal of family psychology 2017. Der Zusammenhang ist deutlich, aber weit von einem Determinismus entfernt, d. h., vielen jungen Menschen, die in ihrer Kindheit häusliche Gewalt miterleben mussten, gelingt es, Gewalt in ihren ersten Partnerschaften zu vermeiden. Dies und das Verständnis der dahinterstehenden Mechanismen (erhöhtes Misstrauen, Akzeptanz von Gewalt, vergleichsweise geringere Fähigkeiten im Umgang mit negativen Gefühlen, fehlende positive Bilder von Vertrauensbeziehungen) eröffnen prinzipiell Chancen für die Prävention, auch wenn es bislang erst wenige entsprechende Modellprojekte in Deutschland gibt. DER PARITÄTISCHE Baden-Württemberg, 2010.

3.4Folgen miterlebter häuslicher Gewalt für die geistige Entwicklung

Obwohl Bildungsabschlüsse für die Verteilung von Lebenschancen in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung sind, haben sich nur wenige Studien bislang mit Auswirkungen miterlebter häuslicher Gewalt auf die geistige Entwicklung von Kindern beschäftigt. Die vorliegenden Befunde ergeben aber ein stimmiges Bild: Miterlebte häusliche Gewalt hindert oder erschwert es Kindern, ihr geistiges oder schulisches Potenzial auszuschöpfen. Entsprechende Zusammenhänge zeigen sich bereits in der frühen Kindheit beim Entwicklungsstand, wie etwa eine deutsche Studie gezeigt hat. Kliem et al., Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2019. Sie bestehen aber auch später im Hinblick auf die Intelligenz. Z.B. Koenen et al., Development and Psychopathology 2003. Zusammen mit den Sorgen und Ängsten betroffener Kinder erschwert dies den Schulerfolg und mindert deshalb das später erreichbare Einkommen. Z.B. Holmes et al., Journal of family violence 2018.

3.5Geschlecht und Alter als Einflussfaktoren auf die Folgen miterlebter Partnerschaftsgewalt

Unabhängig von miterlebter Partnerschaftsgewalt zeigen Mädchen und Jungen, wenn sie als Gruppen betrachtet werden, in der Tendenz einige Unterschiede in psychischen Auffälligkeiten. Für einen Überblick und Hintergründe siehe auch Zahn-Waxler et al., Annual Review of Clinical Psychology 2008. Bei Mädchen treten Auffälligkeiten tendenziell später im Entwicklungsverlauf auf und sie sind eher nach innen gerichtet (Internalisierung, z. B. Ängste, Depression). Innerhalb der Gruppe der Jungen treten Auffälligkeiten im Schnitt früher auf und sie sind eher nach außen gerichtet (Externalisierung, z. B. Aggression, Aufmerksamkeitsstörungen). Im Hinblick auf psychische Probleme nach miterlebter Partnerschaftsgewalt bestätigt sich dieses Muster nur teilweise. Evans et al., 2008. Aggressive Verhaltensauffälligkeiten, wie etwa Störungen des Sozialverhaltens, werden eher von Jungen gezeigt. Dabei zeigte sich, dass nach innen gerichtete Auffälligkeiten insgesamt überwogen. Beim Blick auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigten Jungen vergleichsweise mehr aggressive Verhaltensauffälligkeiten. In der Praxis wäre es deshalb sehr wichtig, sich intensiver mit Ängsten und Depressionen auseinander- zusetzen, die in ihrer Ernsthaftigkeit leichter übersehen werden. Posttraumatische Belastungsstörungen in Reaktion auf alle Arten von Beziehungstraumata, zu denen auch Partnerschaftsgewalt zählt, finden sich jedoch bei Mädchen häufiger als bei Jungen. Alisic et al., The British Journal of Psychiatry 2014, S. 335 ff.

Eine jüngere Übersichtsarbeit Howell et al., Journal of Injury and Violence Research 2016. hat Folgen des Miterlebens von Partnerschaftsgewalt in verschiedenen Altersgruppen analysiert und auf die bereits im Säuglings- und Kleinkindalter beobachtbaren und zuvor häufig unterschätzten Belastungseffekte hingewiesen. In einer der weltweit größten hierzu vorliegenden Studien wurden von Matra Lundy und Susan F. Grossmann Lundy & Grossmann, Families in Society 2005. bei einer Mehrheit von Säuglingen und Kleinkindern nach häuslicher Gewalt Phänomene von erhöhter Unruhe, Irritierbarkeit und Trennungsängsten beschrieben. Im Vergleich zu Kontrollgruppen fanden sich bei Kleinkindern 2–4-fach erhöhte Raten von Verhaltensauffälligkeiten in einem klinischen, d.h. behandlungsbedürftigen, Umfang. DeJonghe et al., Developmental Science 2011. Im Verhältnis zu anderen Alters- gruppen finden sich in der frühen Kindheit im Fall häuslicher Gewalt zudem engere Zusammenhänge zwischen der psychischen Gesundheit von Müttern und der Belastung der Kinder, d. h., häusliche Gewalt schlägt umso stärker auf die Entwicklung der Kinder durch, je mehr die Mutter infolge der Gewalt selbst unter psychischen Problemen (z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung) leidet. Z.B. Levendosky et al., 2018. Ansonsten gilt für den weiteren Entwicklungsverlauf, dass Belastungseffekte in allen Altersstufen beobachtbar sind, sich die Lebens- und Entwicklungsbereiche aber verändern, in denen diese sichtbar werden. So treten Probleme mit Gleichaltrigen im Kindergartenalter hervor und Probleme, wie etwa unzureichende akademische Leistungen verbunden mit fehlender Motivation bzw. Leistungsbereitschaft im Schulalter. Mit zunehmendem Alter gewinnt es zudem an Bedeutung, über welche inneren Bewältigungsstrategien Kinder und Jugendliche verfügen oder nicht verfügen. Emotionale und soziale Unter- stützung scheint dagegen altersgruppenübergreifend von Bedeutung.