4.3.1Angst

Kinder, die im Kontext häuslicher Gewalt aufwachsen, erleben häufig Episoden von Angst bzw. erleben diese gar als chronischen Bestandteil ihrer Beziehungserfahrungen. Sie befinden sich in einem unlösbaren emotionalen Konflikt: Angst aktiviert, biologisch vorprogrammiert, das kindliche Bindungssystem. Das Kind muss daher unweigerlich Nähe und Kontakt zur Bindungsperson suchen. Ist aber die Bindungsperson, bei der das Kind Schutz sucht, gleichzeitig in Personalunion diejenige, die seine Angst verursacht, dann kollabieren seine Verhaltensstrategien und seine Aufmerksamkeit. Sind solche konflikthaften Erfahrungen nachhaltig und/oder stark ängstigend, beeinträchtigen sie offenbar seine Bewältigungskompetenzen und seine Fähigkeiten, seine Gefühle flexibel zu regulieren. Damit sind so genannte hochunsicher-desorganisierte Bindung bzw. Bindungsstörungen beschrieben. Insbesondere kleine Kinder zeigen bizarres Konfliktverhalten gegenüber der Bindungsperson. Dies zeigt sich in Verhaltensweisen wie starke Gehemmtheit, körperliches Erstarren über mehrere Sekunden oder Furchtreaktionen („Freezing“; ▸ siehe Tabelle 1). In den neu veröffentlichten und angepassten Klassifikationskriterien für Bindungsstörungen (im so genannten ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation) werden solche angstassoziierten Verhaltensweisen erstmals als Symptome traumatisierter Kinder interpretiert. Zudem wird dieser Bezug zu einer traumatischen (Beziehungs-)Vorerfahrung auch dadurch dokumentiert, dass Bindungsstörungen nun unter so genannten traumaindizierten Störungsbildern („Trauma-and-Stressor-Related Disorders“) gruppiert werden. Vgl. Ziegenhain & Fegert, 2020.

4.3.2Parentifizierung

Bei einem Teil der älteren Kinder und Jugendlichen zeigt sich, neben ihrer Angst, zunehmend auffälliges und unangemessen kontrollierendes Verhalten. Dazu gehören übertrieben fürsorgliches Verhalten gegenüber der Bindungsperson bis hin zur Rollenkonfusion bzw. Parentifizierung. Cassidy & Marvin, 1992; Crittenden, 2007. Der letztgenannte Mechanismus beschreibt eine „intuitive“ Strategie, die Mutter oder den Vater zu erfreuen bzw. ihr oder ihm gegenüber fürsorglich zu sein. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass parentifzierendes Verhalten ein Kontinuum beschreibt. Am unteren Ende dieses Kontinuums dürfte es z. B. schwer sein, liebevolle Zuwendung eines Kindes bzw. seinen Wunsch, der Mutter eine Freude zu machen, von beginnender Parentifzierung zu unterscheiden. Im „mittleren Bereich“ ließe sich etwa Parentifizierung aufgrund äußerer „Notwendigkeiten“ einordnen, wie die Dolmetscherfunktion von Kindern in Migrantenfamilien bei Behörden oder Ärzt*innen. Hierbei ist es durchaus individuell unterschiedlich, inwieweit dabei die Funktion des Übersetzens zunehmend von entwicklungsunangemessener Sorge und Verantwortungsübernahme der Kinder überlagert wird. Am oberen Ende des Kontinuums übernehmen Kinder eine ihrem Entwicklungsstand nicht entsprechende „Erwachsenen“-Rolle; z. B. Einkauf von Zigaretten, Alkohol, die nicht alters- und situationsgerechte Betreuung von Geschwistern, das eigenständige Übernehmen von Schul- und Behördenkontakten etc. Dies geht mit emotionaler Belastung und Überforderung einher.

Diese letztgenannte Ausprägung ist, aktuell und längerfristig, mit hohen Entwicklungsrisiken für die betroffenen Kinder und Jugendlichen verbunden. Häufig geht damit einher, dass Eltern ihre Elternverantwortung nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen können, wie etwa bei psychischen und/oder suchtbedingten Belastungen. Eltern sind dann immer wieder oder sogar chronisch emotional für ihre Kinder nicht erreichbar bzw. nicht „präsent“, weil sie niedergeschlagen, antriebslos oder berauscht sind.