Neben den beschriebenen Auswirkungen, die eine erhöhte Konzentrationen von zirkulierenden Entzündungsstoffen auf die Entwicklung von Menschen mit Misshandlungserfahrungen haben, sind sie verletzlicher gegen weitere psychosoziale Herausforderungen. In Studien konnte gezeigt werden, dass Stressexposition, wie sie im Trierer Stresstest durchgeführt wird (TSST; (Kirschbaum et al., 1993)), bei Patient*innen mit schweren Depressionen und einer Vorgeschichte von Misshandlungen in der Kindheit im Vergleich mit gesunden Menschen in der Kontrollgruppe eine ausgeprägtere Entzündungsreaktion hervorrief (Carpenter et al., 2010). In einer anderen Untersuchung mit erwachsenen depressiven Frauen zeigte sich, dass gerade die Patientinnen, die in der Kindheit Misshandlung erlebt hatten, eine erhöhte Stimulierbarkeit der Entzündungszellen hatten (Hellmann-Regen et al., 2018). Diese höhere Reaktionsfähigkeit des Immunsystems auf Stressoren im späteren Leben ist vermutlich eine wichtige Ursache für die Anfälligkeit von Menschen, die Kindesmisshandlung erlebt haben, für verschiedene psychische und körperliche Erkrankungen.
Die Überaktivierung des Immunsystems hat multiple Folgen für den Organismus. Zytokine und andere entzündliche Stoffe können toxisch auf Nervenzellen wirken und somit zu Schädigungen im zentralen Nervensystem führen. Sie interagieren aber auch mit den Botenstoffen im zentralen Nervensystem (Neurotransmittern). So führen entzündliche Stoffe z. B. dazu, dass Tryptophan, der Vorläufer des „Glückshormons“ Serotonin, vermehrt abgebaut wird. So steht bei entzündlicher Stimulierung weniger Tryptophan für den Aufbau von Serotonin zur Verfügung - ein Mangel an Serotonin kann die Folge sein. Entzündliche Prozesse sind vermutlich u a. über diese Wege maßgeblich an der Entstehung von neuropsychiatrischen Erkrankungen wie z. B. Depressionen und Schizophrenie beteiligt (Yuan, Chen, Xia, Dai & Liu, 2019). Entzündliche Prozesse spielen aber auch bei der Entstehung körperlicher Erkrankungen wie z. B. der Entstehung von Krebs (Taniguchi & Karin, 2018), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Harrington, 2017), Diabetes und anderen Stoffwechselerkrankungen (Herder et al., 2016) eine wichtige Rolle. Die Überaktivierung des Immunsystems nach dem Erleben von Kindheitsbelastungen wie häuslicher Gewalt wird daher heute als ein Hauptfaktor für die Entstehung psychischer und körperlicher Erkrankungen angenommen.