Häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung nach §1666 BGB
Es lässt sich hier ein psychologischer Prozess annehmen, der einen Entwicklungsweg in parentifizierendes Verhalten begünstigt. Insbesondere dann, wenn die Bindungsperson emotional nicht erreichbar bzw. emotional nicht „präsent“ ist, sind Kinder äußerst beunruhigt und geängstigt. Sie sind bei Belastung, psychobiologisch bedingt, auf (emotionale) Nähe und Kontakt angewiesen. Intuitiv entwickeln sie eine Strategie, die Aufmerksamkeit ihrer Bindungsperson auf sich zu richten: Sie „erfreuen“ und unterhalten sie. Bereits bei Säuglingen kann das ein Lächeln „ohne Grund“ sein, ein biologisches Signalverhalten, auf das auch ein emotional zurückgezogener Elternteil positiv reagiert. Damit können Verstärkerschleifen in Gang gesetzt werden, die sich immer häufiger wiederholen und über die das Kind zunehmend „lernt“, seine Bindungsperson auf sich zu fokussieren und damit einigermaßen mit seiner inneren Erregung zurechtzukommen. Eine solche intuitive Strategie lässt sich lerntheoretisch über operantes Konditionieren erklären, ein Lernmodus, über den bereits Säuglinge und Kleinkinder verfügen. Vgl. Crittenden, 2007. Mit zunehmender Entwicklung dürfte sich die Erfahrung beim Kind verstärken bzw. beim Jugendlichen verfestigen, dass sie Nähe mit der Bindungsperson und mehr Aufmerksamkeit von ihr bekommen, wenn sie sie umsorgen, ihre unangemessene Intimität akzeptieren oder Vertraute*r für sie sind. Damit, so die klinische Interpretation, können sie ihre Gefühle von Hilflosigkeit besser kontrollieren. Sie können die Bindungsperson beeinflussen bzw. werden von ihr wahrgenommen und „gesehen“. Macfie et al., Developmental Review 2015.
Allerdings hat ein solcher Mechanismus, wenn er sich wie in der beschriebenen Ausprägung ausbildet, hohe „emotionale Kosten“ für die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Beginnend im frühen Alter hat der emotionale Aus- tausch bzw. die psychobiologische Regulation eine zentrale Funktion für die emotionale und sozial-kognitive Entwicklung von Kindern. In der alltäglichen Beziehung „spiegeln“ Eltern ihren Kindern Gefühle, Zustände und Bedeutungen und helfen ihnen diese für sich „einzuordnen“ bzw. überschießende Gefühle zu rahmen und zu regulieren („Brain-to-Brain Communications“). Trevarthen, 1993. Finden solche Dialoge nicht oder nur sehr rudimentär statt, entwickeln Kinder einen nur eingeschränkten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und lernen gleichzeitig „Gefühle zu zeigen, die sie nicht fühlen“. Vgl. Crittenden, 2007. Im weiteren Entwicklungsgang wird diese „emotionale Vereinsamung“ chronifiziert und verfestigt, sofern keine Veränderungen in der Perspektivenübernahme bzw. im Verhalten von Eltern stattfinden. Mit dem so genannten „falschen Selbst“ beschrieb bereits Donald Winicott, ein Zeitgenosse von John Bowlby, mögliche gravierende Folgen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung. Winnicott, 2006.