Neurobiologische Folgen kindlichen Miterlebens häuslicher Gewalt
An der Stressreaktion des Körpers ist neben dem autonomen Nervensystem, wie für den Sympathikus beschrieben, zudem die Hauptstressachse des Körpers, die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), maßgeblich beteiligt. Die stressbedingte Aktivierung von Nervenzellen im Hypothalamus stimuliert die Bildung und Ausschüttung des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH). Über das Blut gelangt das CRH zum Hypophysenvorderlappen, wo es die Bildung des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) anregt. ACTH aktiviert im nächsten Schritt dann die Bildung und Ausschüttung von Cortisol in der Nebennierenrinde. Cortisol führt u. a. zu einer Bereitstellung von Energie, z. B. durch eine Herunterregulation der Immunabwehr, so dass mehr Energie für andere Körperfunktionen zur Verfügung steht, damit die Stresssituation erfolgreich bewältigt werden kann.
Bei akuten, einmaligen Stresserlebnissen sind die Aktivierung des Sympathikus und der HPA-Achse sinnvolle Reaktionen des Körpers – so ist der Körper bei Stress plötzlich aufmerksam und hat mehr Energie zur Verfügung. Er kann so blitzschnell reagieren und sich verteidigen („fight“) – oder in Sicherheit bringen („flight“). Langfristig kann es bei wiederholter, übermäßiger Aktivierung des Stresssystems in der Kindheit – wie z. B. bei wiederholtem Miterleben bzw. selbst erlebter häuslicher Gewalt – aber zu einer Fehlregulation dieser Prozesse kommen. Während sich das Gehirn noch entwickelt, also in der Kindheit und insbesondere der frühen Kindheit, besteht eine besonders hohe Vulnerabilität gegenüber Stresserleben. Wiederholte und starke Stresserfahrungen in dieser Phase können die Entwicklung des Gehirns maßgeblich beeinträchtigen. So kann das Erleben von Gewalt in der frühen Kindheit die Verknüpfung verschiedener Strukturen im zentralen Nervensystem negativ beeinflussen und zur Überrepräsentation des angstgesteuerten limbischen Systems und einer Unterentwicklung von anderen zentralen Bereichen führen, die u. a. für kognitive Funktionen verantwortlich sind. Dazu gehören etwa der frontale und präfrontale Kortex sowie der Hippocampus (Keeshin, Cronholm & Strawn, 2012).